Quantcast
Channel: Über uns | Leidmedien.de
Viewing all articles
Browse latest Browse all 48

Streifzüge durch den Märchenwald

$
0
0

„Just shut up, put the record on, turn down the needle and crank up the fucking volume!“ Wumm Wumm Wumm Wumm. Die Kickdrum setzt im Viervierteltakt ein. Es ist in etwa vier Uhr morgens. Durch den dröhnenden Bass werde ich wieder wach, was ich nicht im Geringsten als störend empfinde. David Calovini von der Caput- Redaktion berichtet über das Wurzelfestival. 

Ich entscheide mich kurzerhand vor dem Frühstück noch ein bisschen tanzen zu gehen. Sonst ist kaum jemand zu sehen. Entweder liegen die Menschen schlafend in ihren Zelten oder befinden sich noch auf einer der vielen Tanzflächen des Wurzelfestivals in Niedergörsdorf bei Berlin. Vieles wird mich auch nach dem Festival noch angenehm durch den Alltag tragen. Andere Beobachtungen eines fantastischen Wochenendes stimmen eher nachdenklich…

Wir kommen am ersten Festivaltag deutlich verfrüht am Zeltplatz an. Es ist beginnender Nachmittag und der große Ansturm sollte noch folgen. Eine Freundin hatte sich zwei Tage vor dem Festival spontan dazu entschlossen mit mir zu reisen. Zehn Stunden Zugfahrt von NRW bis Berlin und zurück sind, gerade am Ende eines viertätigen Musikfestivals, in Gesellschaft einfach besser hinter sich zu bringen.
Zunächst einmal kommen wir jedoch an und wissen noch nicht um die zahlreichen Eindrücke, Menschen, Unterhaltungen und Partynächte, die uns durch dieses Wochenende begleiten werden.
Die Sonne steht bei 32 Grad am Himmel und wir haben mächtig Lust auf Freiluftparty. Die Natur hat schon einmal Sommer befohlen. Das kann gerne so weitergehen.

Ich hatte zuvor einen Platz im „Inklusionscamp“ reserviert. Dies ging erfrischend unkompliziert mit einigen Mails, in denen der jeweilige Unterstützungsbedarf der Festivalbesucher im Vorhinein geklärt wurde. Auch an Stromanschlüsse und Verlängerungskabel für jene Festivalbesucher, die nachts auf ein Beatmungsgerät angewiesen sind, ist gedacht worden. Das Festivalteam ist hier gut aufgestellt.

„Genau wegen solcher Dinge ist es unwahrscheinlich wichtig, dass wir hier sind!“

Nach vorheriger Absprache war es möglich, einen Platz in einem der aufgestellten Leinenzelte mit Feldbett zu reservieren. So mussten wir weniger Gepäck zwischen den einzelnen Landesgrenzen transportieren, was uns die An- und Abreise deutlich erleichterte.
Das Feiervolk befüllt nach einiger Zeit den um uns herum liegenden Zeltplatz zwar stoßweise, jedoch erstaunlich zügig. So lernen wir einige unserer Nachbarn für die nächsten Tage kennen. Neben den naheliegenden Berliner Kennzeichen bilden sich schnell Bekanntschaften mit Besuchern aus dem Schwarzwald und einigen Hamburgern. Auch stoßen zwei Freunde, beide Rollstuhlfahrer und mit Assistenz unterwegs, zu uns ins Camp. Die verabredete Feier-Garde ist damit vollständig. Im Verlauf des Wochenendes kommen noch einige Schweizer hinzu. Erfrischend heterogenes und teilweise weit gereistes Publikum. Als das Festivalgelände mit etwas Verzug am frühen Abend seine Tore öffnet, schlendern wir ausgelassen und musikhungrig den ersten Beats entgegen.

Der Wurzelfloor lässt uns zunächst nicht sehr weit kommen, da wir die erste Gelegenheit zum Tanz direkt ergreifen. Vielmehr werden wir ergriffen und lassen uns nur zu gerne mitziehen. Kopf und Schuhe aus – und ab in den Sand.

Die verschiedensten Spielarten des Psytrance

Das Wurzelfestival bietet musikalische Unterhaltung für verschiedene Geschmäcker. Der Hauptfokus liegt indes auf den verschiedenen Spielarten des Psytrance. Diese elektronische Musikrichtung entwickelte sich aus dem früheren Goa der 80er und wird zwar etwas verkürzt, jedoch durchaus zutreffend, auch als Hippietrance bezeichnet. Besonders bezeichnend sind die harten Kickdrums, eine Geschwindigkeit von 130-150 BPM und die mitunter hypnotischen Synthesizer-Linien, welche häufig mit Klängen indischen Ursprungs und Weltmusikelementen verbunden werden.Blick auf ein Mischpult eines DJ. Viele Knöpfe und Regler sind neben rot leutenden Lampen zu sehen.
Neben Techno und Techhouse gibt es an diesem Wochenende, auch für die Anhänger der etwas gesetzteren Gangart, Auswahlmöglichkeiten. Die Chill-im-Hain-Stage lässt einen von Wald umgeben etwas herunterkommen, während das Studio 54 70er-Jahre-Sound auflegt.

Auf einer weiteren Bühne spielen Live-Bands und wer Lust hat, ist zu Kino und Poetry-Slam eingeladen. In der Rumpelkammer gibt es Reggae und Drum And Bass auf die Ohren. Dies sollte unser bevorzugter Aufenthaltsort während der Tanzpausen werden.

Einen Moment auftanken, bevor es im Viervierteltakt weiter geht. Für jene, die es außerhalb der Tanzfläche etwas aktiver mögen, wurde über das ganze Wochenende ein vielfältiges Workshop-Angebot erstellt. Erlaubt ist alles, was die Kreativität fördert, Menschen untereinander in Kontakt treten lässt oder einen bewussteren Umgang mit dem eigenen Selbst fördern soll:
Yoga, gemeinsames Nähen, Hoolahoop, verschiedene Ayurweda-Praktiken oder Meditationsübungen, um nur einige zu nennen.

Alles absolut Barrierefrei und angenehm zu erreichen

Klangmassage als beruhigender Gegenpool zu energiegeladenen Tanzbeats. Genau diese Ambivalenz funktioniert hier vortrefflich und bringt das Gefühl dieser vier Tage für mich am besten auf den Punkt: Jeder macht dann, wann er Lust hat, dass was er möchte! Das Wurzelfestival ist alles, nur nicht konventionell.

Bei den Workshops und vor allem bei den acht Floors, welche sich zum Teil inmitten des angrenzenden Waldes befinden und mitunter nur über verschlungene Waldwege erreichbar sind, fällt eines auf: Alles ist absolut barrierefrei und angenehm zu erreichen. Überall da wo es nötig war, hat der Veranstalter mit Matten und hölzernen Wegbegrenzungen nachgeholfen, was die Fortbewegung auf dem Gelände mit jeder Art von Rollstuhl ermöglichte. Das verdient einen deutlichen Pluspunkt. Ich zumindest habe noch kein Festival besucht, auf dem es derart einfach war, sich mit einer körperlichen Einschränkung – in meinem Fall eine spastische Gehbehinderung – zu bewegen.

Was unserer aus verschiedenen Teilen NRWs stammenden Feiergesellschaft eher Anlass für hitzige Diskussionen bietet, sind einige Begebenheiten im Umgang mit uns während des Festivals, welche den Unterschied zwischen Barrierefreiheit und wahrhaftiger Inklusion – selbst auf einem „Hippiefestival“ – deutlich zutage treten lassen.

Unterschiede zwischen Barrierefreiheit und wahrhaftiger Inklusion

Im Camp fällt als Erstes der zur einen Seite begrenzende Bauzaun auf. Da dieses Bild zudem von einer aufgestellten Holzkonstruktion in Richtung Festivalgelände komplettiert wird, sind wir eher abgeschottet von anderen Besuchern und so kommt ein Miteinander auf dem Zeltplatz nur schwer zustande. Nach einigen Anregungen von unserer Seite wurde der Holzzaun zumindest entfernt und beinahe sofort ergeben sich auch auf dem Zeltplatz Begegnungen. So einfach.
Feiernde und tanzende Menschen bei einem Konzert. Es sind nur die Silouhetten zu erkennen. Helle Scheinwerfer scheinen von der Bühne auf die Menschen.Unterstützend wirkt, neben den Helfern des Wurzel-Teams, der Hamburger Verein Inklusion muss laut sein an der Umsetzung des Inklusionskonzeptes mit. Der Verein hat zum Ziel, Menschen mit Behinderungen den Besuch von Konzerten und Festivals zu ermöglichen. Deren absolut sinnvolles Engagement in allen Ehren, doch nicht nur die Holzkonstruktion zeigt deutlich, dass der Verein eine einseitige Sicht auf das Thema Inklusion zu haben scheint.

Meiner mitgereisten Freundin fällt dies besonders daran auf, dass die Möglichkeit, dass sie einfach aus Freude an der Sache mit mir feiern geht, kaum in Betracht gezogen wird und ihr unfreiwillig die Rolle meiner Assistentin zugedacht wird. Eine Behinderung unterschwellig nur als etwas zu sehen, um das sich gekümmert werden muss, entnervt nicht nur mich. „Wenn ich noch einmal gefragt werde, was für einen Job ich hier habe, werde ich wahnsinnig“, fasst meine Freundin, einmal angefressen, ihre Sicht der Dinge zusammen.

„Sach ma, schlafen die?“

Wenn die angesprochene Haltung schon von Personen vertreten wird, die mit dem Themenfeld Behinderung durchaus vertraut sind, wundert es nicht, dass ich ein ähnliches Erlebnis bei einem unserer nächtlichen Streifzüge durch den Märchenwald hatte: Ich bin mit den beiden anfangs erwähnten Rollstuhlfahrern unterwegs. Wir suchen uns einen Platz auf dem Floor und nehmen die Musik sowie die zahlreich zum Beat flackernden Lichter in uns auf. Ich wippe mit meiner rechten Körperhälfte etwas mit, während sich der weibliche Teil meiner Mitfeiernden an meiner linken Seite anlehnt. Es dauert etwa zehn Minuten, bis mir ein Nebenmann, während einer Tanzbewegung, auf die Schulter tippt: „Sach ma, schlafen die?“, schreit er mir ins Ohr, um sich verständlich zu machen. Nach einem kurzen verwunderten Moment antworte ich: „Ne, die sitzen nur im Rollstuhl.“ Er nickt, ist aber mit dem Thema noch nicht ganz fertig. „Ich bin auch angehender Heilerziehungspfleger“, teilt er mir mit.

Die erste Frage ist ja noch zu verstehen, wenn man bis hierhin wenige Schnittstellen mit Rollstuhlfahrern hatte. Seine zweite Information würde jedoch zu einer Unterhaltung führen, welche ich gerade auf dem Dancefloor nicht führen will.

Erstens bin ich kein Pfleger, da sind andere für zuständig. Zweitens impliziert sein ausgesprochenes „auch“ erneut eine ausschließlich unterstützende Rolle im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Glückwunsch zu seiner Berufswahl. Heilerziehungspfleger ist ein absolut sinnvoller Beruf, keine Frage. Doch ich bin lediglich mit der Dame neben mir vor 13 Jahren zusammen zur Schule gegangen. Dass die Klientin eines Pflegers zudem ihren Kopf an dessen Oberkörper ruhen lässt, ist auch eher unwahrscheinlich und spricht für ein Level von Vertrautheit, welches selten in diesem Beruf auftreten sollte.

Unterschwelliges Absprechen der Fähigkeit, eigene Entscheidungen treffen zu können

Ich möchte hier keinesfalls falsch verstanden werden. Ich habe viele großartige Menschen getroffen und für die meisten war meine oder die Behinderung anderer nicht einen kurzen Moment Thema. Einfach zusammen tanzen, ohne irgendwelche Unterschiede. Viele leben das Motto des Festivals während dieser vier Tage so wie es sein sollte.

Auch habe ich vollstes Verständnis dafür, wenn man nachfragt und ich gebe dann stets sehr gerne Auskunft. Man kann Wissenslücken, gerade im Themenbereich Menschen mit Behinderungen, am besten füllen, indem man genau diese Menschen fragt. Soweit alles gut.
Was mir und sicherlich noch vielen anderen Menschen mit einer körperlichen Einschränkung jedoch entschieden auf den Geist geht, sind diese kleinen, fortgesetzten, unterschwelligen Entmündigungen. Und das, ob nun bewusste oder unbewusste, Aberkennen von Selbstständigkeit und der Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen.

Ein weiteres Erlebnis dieser Art sollte während des Wochenendes noch folgen. Wir schlendern nachts ausgelassen über das Gelände und sind auf dem Weg zur Rumpelkammer. Dieselben drei Menschen wie im Märchenwald. Nur diesmal sind auch die beiden Assistenten mit von der Partie. Die Dame im Rollstuhl ist mit einem Stoffteil sehr leicht bekleidet. Das ist hier überhaupt nichts Ungewöhnliches. Ich habe über das ganze Wochenende mehrere Menschen auch komplett nackt tanzen sehen. Jeder so wie er möchte, wissen Sie noch?

Wir sehen uns auf dem Floor!

Eine am Wegesrand stehende Dame sieht das jedoch scheinbar anders und stürmt auf mich zu. „Pass doch `mal ein bisschen auf sie auf“, bittet sie mich in recht forderndem Ton. „Das ist so eine schöne Frau, die muss hier doch nicht so rumlaufen!“ Mein Einwand, dass ich das zum einen weder muss, noch in dieser oder einer anderen Situation will, wird schlicht ignoriert. Selbst als die Dame über die gesprochen wird, ihren Rollstuhl dreht und mit einem entschiedenen „Lass mich doch“, ihre eigene Meinung äußert, ist meine unfreiwillige Gesprächspartnerin nicht von ihrem Standpunkt abzubringen und fordert noch einmal, man solle auf die Frau im Rollstuhl aufpassen. Wir erkennen, dass hier kein sinnvolles Gespräch möglich ist und ziehen weiter. Wir sind uns alle einig, dass das soeben Erlebte hochgradig seltsam war.

In der Rumpelkammer schildere ich meine Verwunderung:
„Ich verstehe das nicht. Jeder macht hier, was er will und nur bei dir soll man aufpassen, nur weil du im Rollstuhl sitzt?“ Derartige Vorkommnisse sind ihr keinesfalls unbekannt, da sie antwortet: „Ja, bei mir wird so etwas immer anders gesehen.“ Schade eigentlich. Ich persönlich kenne keine Person, die es weniger notwendig hätte, dass man auf sie aufpasst. Ob mit oder ohne Behinderung.

Sie überlegt kurz, bevor sie anfügt: „Weißt du, genau wegen solcher Dinge ist es unwahrscheinlich wichtig, dass wir hier sind!“
Weise Worte und wir kommen auch gerne wieder. Das hier geschilderte ist zum Glück nur ein minimaler Abriss eines ansonsten absolut großartigen Wochenendes, welches wir mit unzähligen aufgeschlossenen und liebevollen Menschen verbracht haben. Lasst uns das nächste Mal doch einfach alle nur zusammen feiern.
Jeder wie er mag. Das geht!
Wir sehen uns auf dem Floor.

Dieser Text entstammt der 29. Ausgabe (September 2018) des Magazins caput. Aktuelle Ausgaben von caput können bei Interesse unter https://www.53grad-nord.com/caput.html bezogen werden.

Bilder: Symbolbilder von pickjumbo.com


Viewing all articles
Browse latest Browse all 48

Latest Images

Trending Articles





Latest Images